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06. September 2019

Neue DGG-Leitlinie: „Das geriatrische Assessment muss verändert werden“

(06.09.2019) Es gibt mittlerweile zahlreiche Methoden, mit denen die Probleme und noch erhaltenen Funktionen eines älteren Patienten bewertet werden. Bei diesem „Geriatrischen Assessment“ geht es in der ersten Stufe darum, ob es sich bei einer älteren Person überhaupt um einen Patienten mit Bedarf an geriatrischer Behandlung handelt. In einer zweiten Stufe kommen standardisierte Testverfahren unterschiedlicher diagnostischer Tiefe hinzu, teils als Befragung, teils als durchzuführende Aufgabe. Doch welche der zahlreichen Instrumente passen am besten zu einem bestimmten geriatrischen Patienten? Hier kann sich der Mediziner leicht überfordert fühlen. Damit dies nicht passiert, hat eine Expertengruppe, die sich hauptsächlich aus Mitgliedern der Arbeitsgruppe Assessment der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) zusammensetzt, eine neue S1-Leitlinie „Geriatrisches Assessment der Stufe 2“ erarbeitet. Diese wird heute beim Jahreskongress der DGG in Frankfurt am Main vorgestellt. Im Interview spricht AG-Leiterin Dr. Sonja Krupp (Foto), wissenschaftliche Leiterin der Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck am Krankenhaus Rotes Kreuz Lübeck Geriatriezentrum, über neue Erkenntnisse beim geriatrischen Assessment, die Forderung an Kostenträger und den Nutzen für Geriater bei der täglichen Arbeit.

Frau Dr. Krupp, warum ist eine Leitlinie zum Geriatrischen Assessment der Stufe 2 notwendig?

Die Leitlinie ist notwendig, weil nach Einführung des sogenannten Barthel-Index zum systematischen Erfassen der Selbstständigkeit und Pflegebedürftigkeit, dem Timed-Up-and-Go-Test, der Mini Mental State Examination und der Geriatrischen Depressionsskala mit 15 Ja-Nein-Fragen diverse weitere Instrumente verfügbar geworden sind, aber bei vielen Geriatern Unklarheit darüber besteht, bei welchen Patienten diese neueren Verfahren den früheren Klassikern überlegen sind. Ein neues Testverfahren am eigenen Hause einzuführen, will wohl überlegt sein, denn die Umstellungsphase wird immer als Mehrbelastung empfunden. Es darf aber nicht sein, dass die verständliche Überforderung von Kollegen – auch denen beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung –, die Vor- und Nachteile der nachrückenden Testgenerationen zu überblicken, zum Beharren auf dem Status von vor über einem Jahrzehnt führt. Eine noch längere Stagnation passt nicht zu einem innovativen Gebiet wie der Geriatrie.

Welche Faktoren standen im Fokus der Leitlinienarbeit?

Zunächst ging es um die Suche nach erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, die trotz der meist maximalen beruflichen Anspannung sowohl Kraft als auch Lust aufbringen, mindestens ein Assessment-Instrument zu „adoptieren“ und im Kontext darzustellen. Dann mussten wir aufpassen, diesen neuen Werkzeugkoffer nicht so groß zu machen, dass die Komplettierung der Leitlinie immer wieder verschoben werden müsste. Es finden noch immer einige Instrumente keine Erwähnung, die bestimmten Kollegen zu Recht ans Herz und Hirn gewachsen sind. Nicht „drin“ zu sein, heißt nicht, überflüssig zu sein.

Was genau sind die Besonderheiten beim Geriatrischen Assessment der Stufe 2?

Diese Stufe enthält fast alle von klinisch tätigen Geriatern eingesetzten Assessment-Instrumente und bildet unter Einbezug der Anamneseerhebung, körperlichen Untersuchung und sonstiger Beobachtungen die Basis der Therapieplanung und -kontrolle. Die Identifikation als geriatrischer Patient ist bei Aufnahme in die Geriatrie in der Regel bereits erfolgt, ein Assessment der Stufe 1 also überflüssig. Ein Assessment der Stufe 3 ist nur punktuell erforderlich – und wird nur selten vom Geriater eigenhändig durchgeführt, sondern oft von beispielsweise Psychologen oder Logopäden.

Und wo liegen hier genau die aktuellen Herausforderungen?

In Deutschland wird zur Abrechnung medizinischer Leistungen ein Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) herangezogen. Das korrekte Durchführen des Assessments der Stufe 2, auch als „geriatrisches Basisassessment“ bezeichnet, ist demgemäß eine der obligaten Voraussetzungen zur Kodierung der geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung. Ohne den daraus folgenden Erlös wäre das Vorhalten des im Team eng zusammenarbeitenden hoch spezialisierten Personals unterschiedlicher Professionen nicht finanzierbar. Wird auch nur in einem der vorgeschriebenen Bereiche das Assessment gemäß Interpretation des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen nicht ordnungsgemäß durchgeführt, so kann die Kodierung dieser Prozedur komplett wegfallen; das erscheint mir nicht verhältnismäßig – aber natürlich ist es mir ein Herzensanliegen, dass alles therapierelevante Assessment in einem sinnvollen zeitlichen Rahmen tatsächlich erfolgt. Geriater und der Medizinischer Dienst der Krankenkassen brauchen dringlich Kriterien dafür, wie das Assessment der Stufe 2 individueller und sinnvoller gestaltet werden kann. Dabei hilft die neue Leitlinie.

Welche neuen Erkenntnisse flossen in die Leitlinien-Arbeit ein?

Eine Erkenntnis ist, dass wir auch Bereiche erfassen sollten, die nicht für die oben angeführte OPS erforderlich sind, aber möglicherweise wichtig für unseren Patienten. Dazu gehören Schmerz, Ernährung, Handmotorik, Schläfrigkeit und Sucht. Sowohl die begrenzten zeitlichen Ressourcen auf Seiten des geriatrischen Teams, die mangelnde Belastbarkeit der Patienten und weitere Erkrankungen, die die Assessment-Ergebnisse möglicherweise verzerren, müssen bei der Zusammenstellung des optimalen „Assessment-Fahrplans“ berücksichtigt werden.

Auf welche wesentlichen Kernaussagen lässt sich die Leitlinie zusammenfassen?

Unsere Kernforderung an alle Geriater lautet: Betreiben Sie personalisierte Medizin nicht nur in der Wahl der Medikamente, sondern auch bei der Wahl des Assessments! Die Forderung an Kostenträger lautet: Würdigen Sie das bedarfsgerechte und individualisierte Assessment als eine Form der Qualitätssteigerung – zur besseren Versorgung Ihrer Versicherten!

Wie genau kann diese neue Leitlinie den Geriatern jetzt bei der täglichen Arbeit helfen?

Die Leitlinie enthält eine kurze Darstellung der Kerndaten zu den genannten Assessment-Instrumenten und praktische Tipps zu deren Anwendung. Klassische Fragen aus dem Arbeitsalltag sind: Welche kurzen Tests eignen sich, solitär eingesetzt, um Therapiebedarf in einem bestimmten Bereich auszuschließen, wenn die Anamnese und Befunde bzw. Beobachtungen damit konform gehen? Welche Tests könnten eingesetzt werden, wenn in einem Bereich bereits Hinweise auf Therapiebedarf bestehen? Wie beziehe ich, wenn ich es auf die Untersuchung eines Bereichs abgesehen habe, Funktionsdefizite in anderen Bereichen in meine Überlegungen zur Auswahl des geeignetsten Instrumentes ein? Bei diesen Fragen möchten wir Orientierung bieten. Hausintern können so Entscheidungswege für ein standardisiertes Vorgehen im interprofessionellen Team besser gestaltet werden. Das nimmt uns die Leitlinie nicht ab.

Welche Punkte des geriatrischen Assessments müssen mit den neuen Leitlinie-Erkenntnissen jetzt neu überdacht werden?

Das geriatrische Assessment muss nicht nur überdacht, sondern verändert werden: Das Überstülpen der gleichen Assessment-Schablone über alle geriatrischen Patienten passt in kein Setting! Ich hoffe, dass die neuen Assessment-Möglichkeiten stärker in die Teambesprechungen integriert werden. Das sollte dazu führen, dass das gesamte interprofessionell agierende Team die Ressourcen und Probleme der Patienten schneller kennenlernt und differenzierter darauf eingeht.

Welche Bilanz ziehen Sie persönlich nach der rund dreijährigen Zusammenarbeit mit der Leitlinien-Gruppe?

Ich bin sehr froh, dass unsere zielorientierte Zusammenarbeit nun eine öffentlich sichtbare Frucht getragen hat, von der jeder nehmen darf. Die meisten der 18 Mitglieder der Leitliniengruppe waren vorher bereits in der DGG-Arbeitsgruppe Assessment aktiv – und sind es weiterhin. Dort wurden auch wesentliche vorbereitende Arbeiten geleistet. Professor Jürgen Bauer hat im Februar 2017 als Präsident der DGG Dr. Helmut Frohnhofen, Abteilungsarzt für Altersmedizin der Klinik für Nephrologie, Altersmedizin und Innere Medizin am Alfried Krupp Krankenhaus in Essen, und mich um die Koordination der Leitliniengruppe gebeten. Die Zusammenarbeit klappte trotz des arbeitsbedingten Zeitmangels der Beteiligten insgesamt sehr gut. Positiv berührt hat mich die Bereitschaft bekannter Autoren, zugunsten dieser Gemeinschaftsproduktion Anpassungen ihrer Textpassagen vorzunehmen oder zuzulassen. Dafür bin ich sehr dankbar. Auch die Projekt-Unterstützung durch die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, die Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie, die Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie, die Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie sowie die Deutsche Schmerzgesellschaft haben der Leitlinie sehr gutgetan und werden sicherlich ihre breite Akzeptanz enorm stärken. Wir brauchen nun erst einmal Rückmeldungen aus der Anwendung der S1-Leitlinie – dann möchte ich damit beginnen, darauf aufbauend gemeinsam die Leitlinien-Leiter um eine weitere Sprosse zu erklimmen – die Konsensfindung wird jedoch sicher mehrere Jahre in Anspruch nehmen.

Hier geht es direkt zur S1-Leitlinie „Geriatrisches Assessment der Stufe 2“.

Foto: privat

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